Axel


Bevor ich zum Aikido kam, praktizierte ich 25 Jahre Karate und 10 Jahre davon auch selbst als Trainer. Ich war auf der Suche, meinen Horizont gänzlich in eine komplett neue Richtung zu erweitern. Mit Aikido bin ich zuvor nur am Rande sporadisch mal konfrontiert worden und wollte eigentlich schon früher mehr über das dahinter liegende Prinzip wissen. Durch einige Veränderungen in meinem Leben, ergab sich nun zum ersten Mal die Gelegenheit, dies in der Praxis auch tatsächlich auszuprobieren. Meine Erwartungen waren damals sehr von dem bisher praktizierten Karate geprägt. Hart, schnell präzise, konfrontativ und auch, bis zu einem gewissen Grad, angriffslustig. Obwohl Aikido einen gänzlich anderen Weg geht, so stellte ich dennoch fest, dass sich viele Dinge nicht widersprachen und sogar perfekt ergänzten. Einige Illusionen legte ich ab und ersetzte Sie durch neue Erfahrungen. Was mir damals jedoch schon sofort aufgefallen war, ist der Umstand, dass Jean Marie einen ausgeprägten Schülerstamm mit hohem technischem Niveau unterrichtete, die sich nicht zu schade waren, auch Anfängern (also mir), mit hohem persönlichem Engagement, fürsorglich zu helfen.

Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass so etwas keine Selbstverständlichkeit ist. Wie die Schüler, so der Meister, sagt man. In fast allen Schulen und Lehrgängen, in denen ich in meinem Leben so trainiert hatte, gab es stets eine strikte Trennung zwischen Anfängern und Fortgeschrittenen und die Gruppen blieben auch während des Trainings weitgehend unter sich. Genau genommen, eigentlich eine Form von Arroganz (man könne nichts mehr von Anfängern lernen), die genau dem entgegensteht, was man eigentlich durch Persönlichkeitsbildung doch zu verändern sucht. Ich habe das innerlich eigentlich schon immer irgendwo bedauert, aber nie wirklich hinterfragt, weil ich es einfach nicht anders kannte. Mittlerweile ist mir klar, dass dies einer der Gründe ist, warum seine Schüler so ein hohes Niveau haben. Anderen zu helfen und sein Wissen weiter zu geben benötigt die Anwendung der eigenen Kreativität und die Fähigkeit, selbst zu denken und die aufgenommen Informationen nicht nur einfach nachzuplappern, sondern selbst darüber nachzudenken oder sogar auch mal in Frage zu stellen und damit auch zu eigenen Erkenntnissen zu kommen, die unabdingbar notwenig sind, um das eigene Aikido überhaupt entwickeln zu können. Gegenseitiges Lernen durch austauschen, um sich die Fähigkeit anzueignen, selbstkritisch und nicht dogmatisch zu sein.

Im eigentlichen Sinne, geistig erwachsen zu werden. Und genau diese Fähigkeit überraschte mich bei Jean Marie am meisten.

Jean Marie ist einer der wenigen Kampfkunstmeister, der seine, im Training vermittelten Lehren als Angebot versteht und nicht als alleingültige, nicht zu hinterfragende „Wahrheit“, verkaufen möchte. Ich empfinde, die Abwesenheit eines Personenkultes als überaus angenehm. Mit einem Dogma, der Meister hat immer Recht, ist unfehlbar und darf auch niemals kritisiert werden, könnte ich auch nichts mehr anfangen. Jean Marie hat sich seine Menschlichkeit bewahrt, was ihn sympathisch und als Meister auch authentisch macht. Seine Anerkennung muss niemals erzwungen werden. Jean Marie verdient sich die Wertschätzung seiner Schüler jeden Tag neu und ruht sich niemals auf den Lorbeeren der Vergangenheit aus. Er ist charakterlich in der Lage, neue Erkenntnisse auch von seinen Schüler anzuerkennen und für sich zu übernehmen, um sein Aikido stetig weiterzuentwickeln. Da er nicht dogmatisch ist, muss er sich auch zu keiner Zeit verbiegen. Ich habe leider die Erfahrung gemacht, dass vielen Meistern leider das eigene Ego sehr im Wege steht. Man distanziert sich automatisch von seinen Schülern, schwebt sozusagen über ihnen und schließt sich in einer selbst erschaffenen Filterblase ein. Man betrachtet die Annahme einer Erkenntnis von Niedergraduierter, fälschlicher Weise, als Schwäche. Mitunter ist das natürlich auch wesentlich kulturell bedingt. Daher ist es für viele Lehrer auch so schwierig, sich weiterzuentwickeln und auch die dafür notwendige Motivation zu finden. Die Erlangung von Fähigkeiten und Wissen ist aber nunmal keine Einbahnstraße. Selbst für einen erfahrenen Meister nicht. Jean Marie hat durch seine Feinfühligkeit und den Respekt, den er auch seinen Schülern entgegenbringt, im Laufe der Zeit das Wissen und die Erfahrung erlangen können, jeden auf sanfte Weise, zu seinen persönlichen Höchstleistungen zu bringen. Er berücksichtigt dabei stets die Individualität jedes einzelnen Schülers und weiß um dessen Stärken und Schwächen. Du erhältst nicht den Fisch sondern die Angel. Eine persönliche Entwicklung, die unter dogmatischen Regeln niemals möglich wäre. Man kann mit gutem Gewissen behaupten, Jean Marie lebt, liebt und fühlt Aikido, da er eben nicht nur die physischen Techniken beherrscht.

Ein echter Aikido-Meister zu sein, bedeutet immer auch das eigene Leben zu meistern.

Als ehemaliger Karateka hat mich natürlich auch die Verwertbarkeit der Techniken interessiert. Der Budo-Charakter sozusagen. Deshalb bin ich auch froh bei Jean Marie gelandet zu sein. Der Kampfkunst-Charakter, also ein gesundes Maß an Realismus sozusagen, findet beim Training immer die notwendige Beachtung. Also keine sinnfreien Tanzbewegungen oder ähnliches. Verteidigungen sind immer intelligent und berücksichtigen, in der anwendbaren Form, auch die kämpferische Machbarkeit. Was mir besonders gefällt, ist die dynamische und technisch feinfühlige Form des Aikido, was den Energiefluss und die Prinzipien viel besser zur Geltung bringt, als andere starre Formen des Aikido. Ein Kosmos, der sich einem nur erschießt, wenn man die reine Brutalität aus der Gleichung streicht.

Was mich generell am Aikido fasziniert, ist Zerstörung der Illusion, dass man als Verteidiger nur quasi eine Art Opfer ist, der lediglich passiv reagiert und jeder Kampf immer in der Konfrontation und der Überlegenheit der eigenen Kraft entschieden werden muss. Das unfassbar Schöne dabei ist, dass die Prinzipien von Aikido, im normalen Leben, auf geistiger Ebene, genauso gut funktionieren, wie in einem realen physisch ausgetragenen Kampf. Dabei ist mir der Hinweis erlaubt, dass man in der Rolle des Verteidigers auch immer die letzte Entscheidung trifft und damit meistens auch die Bessere. 😉